Stadtmitte Manhattan

Broadway aus einem skeptischen Blickwinkel – ein Stadt- und Musicaltest der anderen Art.

Die Billboards am Times Square unterliegen bekanntlich dem Denkmalschutz. Doch die spektakulärste Werbung aller Zeiten wäre heute nicht mehr denkbar. Zwischen 1941 und 1966 blies der Camel-Man unter dem Slogan „I´d walk a mile for a camel“ alle vier Sekunden einen Rauchring über den Platz. Insgesamt ergab das einen Ausstoß von 200 Millionen Rauchringen. Zigarettenwerbung ist inzwischen ausgeschlossen, aber der bunte, mehreckige Platz, der in den Siebzigerjahren noch als Brennpunkt urbaner Gefahren galt, ist ein Anziehungspunkt für die Massen. Nicht nur die Digital-Werbeflächen und die maß- und endlosen Souvenirshops, mittlerweile drängen auch gierige Großplayer ins Herz touristischer Begierde, das Toys“R“us etwa, mit seinem Indoor-Riesenrad und dem doch recht doktrinären Warensortiment, zieht magnetisch Familien in seinen Schlund. Draußen hupen die dunkelgelben Taxis, als wollten sie einander in Töne zerstauben, und die Passanten lassen sich mit Mickey Maus fotografieren, oder mit Sponge Bob, oder mit drei lebendigen Statues of Liberty. Auf einer Verkehrsinsel spielt, allzeit bereit zum privaten Shooting, ein Cowgirl im kurzen US-Flaggenhöschen ihre Stromgitarre.
Wenn die Figuren aus Film, Musik und Kultur abends zur Bettruhe schreiten, um sich in mürrische Citizens zu verwandeln, geht der Trubel weiter. Aus der Schachbrettstruktur des Times Square, in der der Broadway als schräges Element liegt, strömen die Massen zu den Theaterhäusern und in den Norden, dem Central Park entgegen. Dort oben fungiert der Broadway als Zubringer zur Lincoln Plaza mit Kulturstätten wie der Metropolitan Opera, hinauf bis zum Delikatess-Supermark Zabar´s, wo man an glücklichen Tagen angeblich Woody Allen trifft. In Upper Westside erlangt der Broadway eine andere Struktur, ist offen, frei und breit. Ganz im Gegensatz zur quirligen Midtown, wo er zwar nicht originell, aber original wirkt – eine Straße, an der zwischen der 7th Avenue mit ihren Ansätzen zur Hochkultur und der berüchtigten 8th Avenue mit den indischen Sexshops die Theaterkultur vorherrscht.
Der Großteil der Bühnen gehören zum Reich der Shuberts, drei Brüder, Levi (später Lee), Samuel (Sam) und Jacob, Söhne litauischer Einwanderer aus dem 19. Jahrhundert, die den Unterhaltungsmarkt Midtown mit dem Bau mehrerer spektakulärer Spielstätten gründeten. Sam Shubert starb mit 26 Jahren bei einem Zugsunglück auf der Stecke nach Pittsburgh, Lee und Jacob Shubert wetteiferten – andere sagen, bekriegten sich – im Bau immer eleganterer, fassungsstärkerer Theater. Lee galt als beinharter Businessmann, er landete den Coup, die berühmteste Schauspielerin der Epoche, Sarah Bernhardt, nach Amerika zurückzubringen, wo sie vorher nur schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Den Shuberts gehörte bald das größte Theater-Imperium des 20. Jahrhunderts, zusammengefasst in „The Shubert Organisation“. Der Architekt der Gebäude war in den meisten Fällen Herbert J. Krapp. Am liebsten errichtete er Säle mit breitem Parkett („orchestra“) und eine steile Galerie („mezzanine“), die bis heute funktionieren.

Musical, nein danke? Nun ist der Moment gekommen, als Schreiber dieser Zeilen vor den Vorhang zu treten. Ich war vorher noch nie in einem Musical. Mir widerstrebte das Genre an sich, mein Vorurteil besagte, dass es sich ohnehin um blanken, dummen Kitsch handelt. Zum Beispiel pflege ich die Überzeugung, dass die Welt (und jede Party) ohne die gellenden Ohrwürmer der schwedischen Siebzigerjahreband Abba definitiv eine bessere wäre. Deshalb lasse ich die private Abba-Abneigung einen Grund dafür sein, ins kalte Wasser zu springen, im Broadhurst Theatre (1917 / 1.156 Plätze) zu testen, wie sich das Abba-Musical schlägt. Zu meiner Verblüffung besteht das fremde Genre den Test spektakulär. Die britische Autorin Catherine Johnson hat ein dramaturgisches Konzept mit Hand und Fuß erfunden, in das sich, wie durch ein Wunder, sämtliche Hits der Megaband wie angegossen schmiegen. Dabei hat die Storyline nichts mit den Songs zu tun! Es geht um eine alleinstehende Hippie-Aussteigerin auf einer griechischen Insel. Ihre Tochter lädt zum Anlass ihrer Hochzeit die drei in Frage kommenden Ex-Freunde der Mutter ein, um endlich herauszufinden, wer ihr Vater ist. Die Texte der Songs treiben aus irgendeinem zauberhaften Missverständnis die Handlung voran. Wahrscheinlich gibt es kein besseres Jukebox-Musical als jenes, das Abba nicht selbst geschrieben haben.

Hupkonzert und Frischluft. Wenn ein Geräusch die Midtown Manhattans kennzeichnet, ist es das Hupen. Ein lockeres, nicht insistierendes – aber doch – Hupkonzert in allen Klangschattierungen, es klingt, als hätte Schönberg es komponiert. Es dringt durch die Ritzen in die Häuser, findet seinen Weg in jeden Deli, in jeden Supermarkt, in jedes Hotelzimmer. Nur in den Theatersälen hört es keiner. Wer das Hupen ausschalten will, muss in eine Broadway-Aufführung.
Durch die steil ansteigenden Theater weht ein kühler Wind. Oder soll man es Frischluft nennen? Jedenfalls zieht es ordentlich. Einige Amerikaner sitzen auch in der kalten Jahreszeit in kurzen Hosen und T-Shirt im flachen Orchestra oder auf dem noch frostigeren Mezzanine. Die Europäer sind jene, die kopfschüttelnd im Sitzen ihre Mäntel tragen – und damit auf komplizierte Art overdressed bleiben. Die Theaterwelt gibt sich hier überhaupt so derartig uneuropäisch, dass der Bildungsbürger mit der hohen Augenbraue, der von der Überzeugung ausgeht, in den USA herrsche ohnehin Unkultur, besser gleich draußen bleibt. Draußen, aber nicht in einer der langen Schlangen auf den Gehsteigen Midtowns, in denen ankommende Musicalgäste ohne erkennbare Murrgeräusche stehen. Die Erfahrung lehrt, dass diese Schlangen sich rasch auflösen. Die Logistik der Füllung eines New Yorker Theaters – wie bringt man zweitausend Menschen ohne Verzögerung in einen Veranstaltungssaal? – ist unübertroffen.
In der Pause werden „wine, walter, candy“ verkauft, und das Schlangenspiel setzt sich fort: Nicht nur vor den Restrooms der Damen, auch vor jenen der Herren, bilden sich wieder Staus. Niemand jammert, wenn er zehn Minuten warten muss und ein Glas Sekt versäumt – Geduld ist in Amerika normal. Außerdem waschen sich die Betroffenen vor dem Hinausgehen ausführlicher als notwendig die Hände, wodurch Partikularschlangen entstehen, die ebenfalls in aller Seelenruhe akzeptiert werden. Es kommt zu keinem Handgemenge, niemand gibt auf, keiner läuft Amok. Die Billeteure tragen ihren Teil zur Ordnung bei, rücken feuerpolizeiliche Bestimmungen in den Mittelpunkt, fordern die „folks“ auf, „not to block the way“, und das Volk gehorcht.

Wilder Knast, Großer Fisch. Im Ambassador Theatre (1921 / 1.155 Plätze) läuft „Chicago“, einer der unangefochtenen Broadway-Klassiker. Es geht auf das gleichnamige Stück der Reporterin Maurine Dallas Watkins aus dem Jahr 1926 zurück und beschreibt die mörderischen Machenschaften im zeitgenössischen Chicago und im Chicagoer Frauengefängnis. Die Bearbeitung von Kander und Ebb, die zwischen 1975 und 1977 mit fast tausend Aufführungen zu einem Erfolg wurde, hat sich seit der Wiederaufnahme 1996 durchgehend gehalten, hat eine Menge der begehrten Tony- und Drama Desk Awards abgeräumt, und rangiert als drittlängste Broadway-Produktion. Ganz am Phantom der Oper ist Chicago noch nicht dran, doch das kurzweilige, energiesprühende Spiel mit hoher athletischer Kompetenz erringt allmählich Legendenstatus. Es ist ein Lehrstück mit moralischen Anklängen und sozialem Anliegen, und Bertolt Brecht schaut wohlwollend herab, wenn Velma Kelly das Publikum nach der Pause, sich in luftiger Höhe lasziv um die Stufen einer Leiter schwingend, begrüßt mit: „Welcome back suckers!“
Was dieses Feuerwerk letztlich ausdrücken will, außer, dass Männer ihre Frauen betrügen, andererseits auch Frauen fähig sind zu Mord, dass Anwälte korrupt, Medien sensationslüstern – das alles wird eindringlich, teilweise mit sämtlichen theatralischen Mitteln gleichzeitig dargestellt – steht nicht ganz fest. Dass Verbrechen sich lohnt? Dass die Vereinigten Staaten ruchlos und gefährlich sind? Dass der Mensch ein Gauner sein kann? Wenn auch bei Chicago irgendwie der brechtsche Erkenntnisgewinn fehlt, muss man zugeben, die Broadway-Unterhaltung funktioniert grandios.
Ganz anders verläuft „Big Fish“ im Neil-Simon-Theatre (1927 / 1.467 Plätze), eine tragische Familienkomödie mit tausenden Narzissen nach einem Buch von David Wallace (1998). Was steckt hinter den wild ausgeschmückten Lebensgeschichten eines redseligen Vaters, wenn der Sohn, erwachsen geworden, sie kritisch hinterfragt? Hier spielt der Broadway seine Stärken aus. Das Publikum kramt Taschentücher hervor, denn es geht um Liebe, Krankheit, Verlust, um die große Geste, eine Märchenwelt. Am Ende würde man vielleicht sogar abstreiten, dass das meiste gesungen war. Darin besteht meine eigentliche Erfahrung: Ich habe begonnen, an das Genre zu glauben. Musical mag definitionsgemäß nicht ohne Kitsch auskommen, aber eines ist es rund um den Times Square ganz sicher, ein authentisches Volks-Theater.

 

1 Midtown Souvenir
Die 8th Abenue, einst ein Rotlichtviertel, hat sich unter Bürgermeister Giuliani durch massiven Druck “gebessert”. Die billigsten T-Shirts gibt es hier, die scheußlichsten Aschenbecher ebenso, die unglaublichsten Typen tummeln sich in einer Art Menschen-Begegenungszone. New York, wie der Massentourist es liebt.

2 Broadway 3 Tickets / The Broadway Collection
Tickets der Broadway Collection, einem Zusammenschluss von Broadway-Stücken, bei www.broadwaycollection.com; deutschsprachige Infos bei Lieb Management, broadway@lieb-management.de. City Package mit Übernachtung (Skyline Hotel, Holiday Inn Midtown, Westin Times Square) und Eintrittskarten nach Wahl aus dem breiten Portfolio, dazu Flugangebote, bei Amerikareisen, Buchberggasse 34, 3400 Klosterneuburg, Tel: 02243-25994, Fax: 02243-26198, office@amerikareisen.at, www.amerikareisen.at

3 Metropolitan Opera
Die Met aus dem Jahr 1880 gehört zu den größten Opern der Welt. Metropolitan Opera, 10 Lincoln Center Plaza, New York, USA. www.metoperafamily.org

4 Zabar´s [fotos beiliegend]
Supermarkt und Spezialitätenladen auf der Upper Westside, an der Ecke von Broadway und 80th Street, gute Importe, gute Eigenprodukte; wurde auch negativ berühmt mit seinem Lobstersalat, in dem kein Lobster drin ist – aber alle lieben ihn. Küchenutensilien im 1. Stock, großes Merchandising (Tassen, Einkaufstaschen), betreibt auch ein kleines Café mit warmen Suppen und Bagels am Eck.
2245 Broadway, www.zabars.com

5 Shubert Brothers
The Shubert Organisation betreibt das Ambassador, das Ethel Barrymore, das Belasco, das Booth, das Broadhurst, das Broadway, das Cort, das John Golden, das Imperial, das Bernard B. Jacobs, das Longacre, das Lsceum, das Majestic, das Music Box, das Neil Simon, das Gerald Schoenfeld, das Shubert selbst und das Winter Garden Theatre, dazu kommt noch das Little Shubert, das zu Off-Broadway gehört. www.shubertorganization.com

Der Autor wurde für die Reise eingeladen von der Broadway Collection, www.broadwaycollection.com.